Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut
in allen Lüften hallt es wie Geschrei
Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei
und an den Küsten – liest man- steigt die Flut
Der Sturm ist da, die wilden Meer hupfen
an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken
die meisten Menschen haben einen Schnupfen
die Eisenbahnen fallen von den Brücken
Hans Davidsohn wurde 1887 als Sohn eines jüdischen Sanitätsrats in Berlin geboren. Zunächst studiert er in Berlin Architektur, dann Klassische Philologie. Hier findet er Anschluss an die literarische Szene. Er gründet mit Freunden den „Neuen Club“, in dem er eigene Gedichte vorträgt. Unter dem Namen Neopathetisches Cabaret organisieren sie ab 1910 literarische Abende. Er nimmt den Namen Jakob van Hoddis an (eine Buchstabenumstellung seines Nachnamens).
Unter diesem Namen veröffentlicht er 1911 ein Gedicht mit dem Titel „Weltende“. Es ist von seinen zwei Dutzend Gedichten sein einzig bekanntes geblieben, ein sogenanntes „One-Hit-Wonder“. Es machte in den literarischen Kreisen schnell Furore.
Ab 1914 werden bei ihm die Symptome einer psychischen Erkrankung immer deutlicher. Ab dieser Zeit war van Hoddis in ständiger ärztlicher Behandlung oder wurde privat gepflegt. Es folgte eine lange Periode der Selbsteinweisungen und schließlich die Zwangseinweisung in eine Privatklinik für Gemüts- und Nervenkranke. Sein Zustand verschlechterte sich zunehmend. 1942 wurde er durch die Nationalsozialisten in das Lager Sobibor verlegt und dort voraussichtlich ermordet.
Die kurze Schaffensperiode von Jakob van Hoddis fiel in eine Zeit der allgemeinen Weltuntergangsstimmung. Die bürgerliche Gesellschaft hatte z.B. Angst, dass der Halleysche Komet auf die Erde fällt. Die Zeitungen waren voll mit Sensationsmeldungen von (vermeintlichen) Vorboten des Weltuntergangs: Orkanartige Stürme, Überschwemmungen, verheerende Unglücke, Abstürze und Katastrophen. Alles Schützende erschien den bürgerlichen Kreisen bedroht (Köpfe, Hüte, Dächer, Dämme, technische Errungenschaften…).
Darüber hinaus zeigten die zivilisatorischen Entwicklungen der Industrialisierung und der Entstehung großer Städte ihre negativen Seiten: Umweltverschmutzung, Verarmung, Lärm, Vereinsamung…
Jakob van Hoddis hat für die Auseinandersetzung mit den Weltuntergangs-Phantasien seiner Zeit eine faszinierende lyrische Form „erfunden“:
1. Reihenstil (Simultanstil)
Wie Headlines werden im Gedicht „Weltuntergang“ die Verse fast zusammenhangslos aneinandergereiht ( nur in der zweiten Strophe geht ein Gedanke über zwei Zeilen). Sind es hier noch ganze Sätze, so werden bei anderen Lyrikern der Zeit nur Satzteile, Wörter oder Satzfetzen aneinandergereiht, oft wird der Sinnzusammenhang komplett auseinandergerissen.
Die Form folgt so den so erlebten „zerrissenen“ Verhältnissen.
2. „Bürger“-Kritik
„Der Bürger“ ist ein Sinnbild für Erstarrung, dem Festhalten am Etablierten, der Enge. Bedroht sieht der „Bürger“ seine etablierte Welt, seine konservativen Weltanschauungen, seinen persönlichen Lebensstil und die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und möchte um jeden Preis daran festhalten.
Lyrik, die zwischen 1910 und 1925 entstanden ist und die diesen beiden Kriterien entspricht, hat man den Namen literarischer Expressionismus gegeben.
Satire, Persiflage, Entlarvung
Inhaltlich parodiert das Gedicht „Weltende“ die weit verbreitete Angst des „Bürgers“, dass es Veränderung geben könnte, dass die eigene Welt bedroht wird, dass ein „Sturm“ droht, der das Vertraute und Etablierte hinwgfegen könnte.
Diese Ängste entlarvt van Hoddis mit satirischen Mitteln:
Dem Bürger fliegt vom „spitzen“ Kopf der Hut (eine Assoziation an das urpreußische Symbol der Pickelhaube).
In der Luft liegt Geschrei (z.B. der Schlagzeilenausrufer / Zeitungsverkäufer in den Straßen).
Die Dachdecker „gehn entzwei“ (eine kindliche Vorstellung, wie wenn eine Kinder-Puppe zerbricht).
Die Flut findet vornehmlich im Blätterwald der Zeitungen statt („liest man“).
Der Sturmflut wird durch die verharmlosende sprachliche Wendung „die Meere hupfen an Land“ ihre Bedrohlichkeit genommen.
Die Veränderung, vor der sich der „Bürger“ fürchtet, ist so gefährlich wie ein Schnupfen.
Katastrophenmeldungen werden gern als Unterhaltung gelesen. Sie schaffen ein diffuses, angenehmes Bedrohungs-Gruseln (solange die Eisenbahnen auf fernen Brücken abstürzen).