Weltende
(1903)
Es ist ein Weinen in der Welt,
als ob der liebe Gott gestorben wär,
und der bleierne Schatten, der niederfällt,
lastet grabesschwer.
Komm, wir wollen uns näher verbergen …
Das Leben liegt in aller Herzen
wie in Särgen.
Du, wir wollen uns tief küssen …
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
an der wir sterben müssen.
Das Jahr 1903 bringt für Else Lasker-Schüler die entscheidende Weichenstellung ihres Lebens:
Sie wurde 1869 in Wuppertal als Tochter eines jüdischen Bankiers geboren. 1894 heiratet sie den Arzt Bernhard Lasker und zieht nach Berlin.
Im April 1903 trennt sich von ihrem Ehemann, was gleichbedeutend ist mit der Aufgabe eines gesicherten bürgerlichen Lebens. Fortan lebt sie mittellos ohne festen Wohnsitz, von Gönnern unterstützt, immer exzentrisch, träumerisch, immer wie ein Kind mit den Identitäten spielend z.B. als „Tino von Bagdad“ (orientalische Prinzessin) oder „Yussuf von Theben“ (männlicher Prinz).
Im November 1903 heiratet sie den wesentlich jüngeren Kurt Lewin (von ihr in Herwardt Walden umbenannt, ebenfalls ein Mitglied der Berliner Literaten-Boheme und später Herausgeber der Zeitschrift „Sturm“).
In diesem Jahr 1903 wird das Gedicht „Weltende“ erstmals veröffentlicht.
Es beschreibt in eindrucksvollen Sprachbildern, wie Else Lasker-Schüler mit Trennungen, Krisen und Veränderungen umgeht. Ob bewusst oder unbewusst, wird hier bereits am Anfang ihres Künstlerlebens ein Lebensskript geschrieben, das sich durch ihr ganzes Leben zieht.
Kennzeichnend dafür sind:
Else Lasker-Schüler beschreibt in „Weltende“ ihre Trennungssituation nicht als persönlichen Schmerz, sondern als „Welt“-Untergang, als „Tod Gottes“. Es sind „als-ob“ Bilder voller Pathos.
Nicht sie weint, sondern es ist ein „Weinen in der Welt“,
nicht sie trauert, sondern die „Trauer lastet grabesschwer“,
das Leben ist in „allen“ Herzen wie in Särgen,
die Sehnsucht nach einer neuen Liebesbeziehung pocht nicht nur an ihr Leben, sondern an die ganze „Welt“.
Die Dramatisierung der eigenen Trauer und das Ausweiten ins „Allgemeine“ geschieht in beindruckenden, expressionistischen Bildern. Es ist eine pathetische Übersteigerung des eigenen Weinens, der eigenen Liebes-Sehnsucht.
Die Formulierung, dass der „liebe Gott“ gestorben ist, hat etwas Naives, Kindliches. Der Rückzug ins Kindliche ist eine typische Verhaltensweise von Else Lasker-Schüler. Sie zieht sich in eine Traumwelt zurück, wird zu „Tino von Bagdad“ und „Yussuf von Theben“. Sie kostümiert sich entsprechend und tritt als orientalische Prinzessin auf. Dieses Kindlich-Träumerische erinnert an Kinder, die die Augen schließen und glauben, dass damit alles Bedrohliche verschwunden ist.
Zeitgenossen haben Else Lasker Schüler als die „ewig Verliebte“ bezeichnet. Ihr Leben ist eine Kette von oft tragischen Liebesbeziehungen zu (meist) jüngeren Männer; angefangen mit Bernhard Lasker, über den Vater ihres Sohnes Paul (dessen Identität sie lebenslang nicht preisgibt), über Kurt Hille, Herwardt Walden, Gottfried Benn, Franz Marc und viele mehr bis hin zu Ernst Simon, in den sie sich 1945 im Alter von 76 Jahren im Jerusalem nochmals „unsterblich“ verliebt (die Liebe bleibt allerdings unerwidert).
Sie möchte sich angesichts der Trauer und der bleiernen Schwere „näher verbergen“ und „tief küssen“. Es ist ein Flehen an den Liebhaber (hier Kurt Lewin), sich bergen zu können, tief in eine Liebesbeziehung zu versinken, sich darin für die Tragik der Situation unsichtbar zu machen. Ihr ganzes Leben lang sucht sie solche symbiotischen Liebesbeziehungen. Diese Verliebtheit kostet sie aus, bis sie zu Ende geht und die Sehnsucht nach einer neuen Beziehung „anklopft“.
Aus dem Reigen von Unglücklichsein und Liebesglück entstehen ausdrucksstarke und ergreifende Liebesgedichte. Verse wie „Es ist ein Weinen in der Welt, als ob der Liebe Gott gestorben wäre“ oder zum Schluss des Gedichts „Es klopft eine Sehnsucht an die Welt, an der wir sterben müssen“ sind lebendige Beispiele dafür. Oder das Gedicht „Ein alter Tibetteppich“, das für Karl Kraus zu „den entzückendsten und ergreifendsten gehört, die ich je gelesen habe und in denen so wie in diesem Tibetteppich Sinn und Klang, Wort und Bild, Sprache und Seele verwoben sind“. (1)